Ich habe neulich in diesem Artikel vom Kalten Krieg 2.0 geschrieben. Die jüngsten und aktuellen Ereignisse um Sergei Wiktorowitsch Skripal verschärfen die Thematik, abermals.
Skripal ist ein russischer Doppelagent, der für den britischen Geheimdienst MI6 gearbeitet hat. Seine Enttarnung liegt mittlerweile vierzehn Jahre zurück. Anfang März 2018 ist auf ihn ein Giftgasanschlag (Nervenkampfstoff) verübt worden, von dem auch seine Tochter und weitere Unbeteiligte betroffen gewesen sind.
Verwendet wurde ein Kampfstoff der Nowitschok-Reihe, der Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion entwickelt worden ist. Dieser Kampfstoff ist extrem aggressiv und gefährlich.
Soweit die Fakten.
Abseits von Indizien, etwa, dass der Kampfstoff aus Russland kommt oder fragwürdige Aussagen von Putin, die bereits mehrere Jahren zurückliegen, gibt es keine objektiven Belege, die eine Verwicklung von Russland in den Anschlag nahelegen würden. Handfeste Beweise fehlen vollends.
Als Maßnahme des Westens erfolgten erst Ultimaten an Russland, sich zu dem Fall zu äußern. Später unterstellten erst Großbritannien, gefolgt von Deutschland, Frankreich, den USA und weiteren Staaten, darunter einige aber nicht alle Länder der EU, Russland für den Anschlag verantwortlich zu sein. Es folgte der Abzug britischer Diplomaten aus Moskau, gefolgt von Diplomaten weiterer, zumeist westlicher Länder. Russland reagierte entsprechend und zog seinerseits Diplomaten aus dem Westen ab.
Ob Russland für den Anschlag verantwortlich ist oder nicht, ist nicht Thema dieses Artikels. Das, worüber ich hier schreiben möchte, ist die Tatsache, dass ich mich darüber wundere, dass rechtsstaatliche Prinzipien im Westen nicht zu gelten scheinen, wenn es um Russland und die Diplomatie zu den Russen geht. In einem Rechtsstaat gilt jemand solange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Bewiesen. Nicht vermutet. Es ist daher erschreckend und verwunderlich zu gleich, dass der Westen eben jene Prinzipien aufgibt, wenn es um Russland geht, deren Missachtung sie Russland immer wieder vorwerfen. Das ist nicht nur paradox, sondern auch undiplomatisch.
Auch die Maßnahmen finde ich, so üblich sie auch sein mögen, äußerst irritierend. Kommt es zu Verwerfungen mit einem Land, die man doch bitte friedlich zu lösen hat, dann ist es äußerst unvorteilhaft, wenn man ausgerechnet Diplomaten vom potenziellen Verhandlungspartner abzieht.
Darüber hinaus stellen sich mir ein paar weitere Fragen:
-Warum nutzt Russland für so einen Anschlag einen Kampfstoff, der direkt zu den Russen führt?
-Warum passiert der Anschlag kurz vor dem wichtigsten Sportereignis der Welt, der Fußball-Weltmeisterschaft, die in Russland stattfinden wird? Russland kann mit Sicherheit ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt die aktuellen Schlagzeilen und diplomatischen Entwicklungen nicht gebrauchen.
-Warum geschieht der Anschlag zu einer Zeit, in der Großbritannien eine thematische und mediale Ablenkung gut gebrauchen kann? Man denke an den Brexit oder daran, unter welchem innenpolitischen Druck Frau Theresa May steht.
-Warum passiert der Anschlag genau zu der Zeit, zu der auch die USA eine Umlenkung der medialen Berichterstattung gebrauchen können, vor allem hinsichtlich Trumps und der Republikaner? Man denke an das Buch Fire and Fury, den Kampf der Jugend gegen Waffen oder aber an die vermeintliche Affäre Trumps mit einem ehemaligen Pornostar.
-Was ist mit Stellvertreterkriegen, etwa in Syrien, oder aber dem Interesse an Waffenexporten aller Beteiligten?
Auch die Indizien kann man hinterfragen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind große Teile des sowjetischen Inventars und Arsenals verscherbelt worden. Teilweise auch an Despoten und/oder Privatpersonen. Zu nennen sind hier beispielsweise Wiktor Anatoljewitsch But und seine Tätigkeit als Waffenhändler. Was, wenn Teile des Kampfstoffvorrats in die falschen Hände geraten sind?
Ich möchte damit weder Russland entlasten noch den Westen beschuldigen. Ich bin in dieser Sache wertungsneutral, da ich bisher keine sachdienlichen und handfesten Beweise ausmachen konnte – und gerade als jemand, der einen Rechtsstaat für ein wichtiges Gut hält, erwarte ich diese Haltung auch von unseren Spitzenpolitikern, die eigentlich für dieses Prinzip einstehen sollten.